Was mein perfektes Reise-Ich so tut

In drei Wochen ein Land kennenlernen? Hier das Programm.

Drei Wochen, das ist die Standardlänge für „lange“ Reisen im 21. Jahrhundert. Drei Wochen –etwas mehr Zeit, als der Durchschnittsurlauber hat. Drei Wochen, die Minimalchance, zumindest ein bisschen von einem Land zu verstehen.
Zunächst teilt sich mein Zielgebiet in zwei Hemisphären: die von Touristen besuchte, und die sozusagen authentischere, die Einheimischen vorbehalten ist – oft sind die beiden örtlich ineinander verschränkt, berühren einander aber nur am Rande. Mein Programm spielt sich in der zweiten Hemisphäre ab. Mein perfektes Reise-Ich verzichtet auf Louvre, Bundestag oder Empire State Building – auf Reiseführer-Konsultation ebenso wie auf Strandbräune. Ich habe keinen City-Rucksack, keine Baseballkappe, keine kurze Hose dabei, höchstens eine Minikamera und eine unauffällige Sonnencreme. Ich wohne nicht im Hotel, sondern besorge mir im Internet eine möblierte Wohnung. Und vor allem: Ich bin ab jetzt alleine. Kein Partner, kein Kind, kein bester Freund.
Ich koche daheim, besuche Märkte und Supermärkte, lerne die Nachbarschaft kennen, esse in Gaststätten, trinke das Nationalgetränk und ernähre mich wie die anderen ringsum. In meinem Stammcafé führe ich mit den Kellnerinnen oder Barmännern Gespräche, am besten über Fußball (bzw den jeweiligen Nationalsport) oder das Wetter, zwei Fachgebiete, über die ich mich im Vorfeld informiert habe. Ich fotografiere niemals mein Essen, lasse meine Freunde keinesfalls über soziale Netzwerke an meiner Reise teilhaben, bin aber durchaus online.
Ich passe mich der Gehgeschwindigkeit der Einheimischen an, meine Wege haben immer ein Ziel. Ich meide Fußgängerzonen und Museen, streune stattdessen durch die Viertel und Parks, studiere den Friedhof, kaufe mir, egal ob ich sie verstehe, jeden Tag die Tageszeitung, lasse mir die Haare schneiden, nehme Magenprobleme mit Gleichmut hin und besuche nötigenfalls ohne Scheu und Ärger die Apotheken, Ärzte und Krankenhäuser.
Ich bin nun nicht mehr als Fremder erkennbar, und falls ich das aus geographisch-ethnischen Gründen (Asien, Afrika) doch sein sollte, so wirke ich zumindest wie einer, der vorläufig hier lebt. Ich beschäftige mich mit Sprache und Schrift, kann schon am ersten Tag bis Zehn zählen und baue mein Wissen aus. Bald kenne ich Buchhandlungen und Bibliotheken – bleibe niemals zu lange –, höre Radio, rate bei der Millionenshow mit, auch wenn ich absolut keine Chance habe. Ich besuche Veranstaltungen, zu denen nur Einheimische gehen, stelle mich bei Gottesdiensten in die hinteren Reihen, auch wenn ich den betreffenden Gott ablehne.

Ich sage, dass ich aus Österreich bin, allein das führt zu Gesprächen, so lerne ich Menschen kennen, die ich in einlade, die Leute kommen freiwillig und gerne, sie sind weniger scheu, wie man selbst wäre, hätte man Reiseführer gelesen. Ich spreche mit Kindern, so oft es geht.
Der moderne Tourist fürchtet bekanntlich dauernd, übervorteilt zu werden – in meiner Lage ist mir das recht gleichgültig. Denn wenn ich noch immer hier und dort von Gaunern und Verkäufern überteuerter Waren als Zielperson erkannt werde, macht es mir nichts aus, mich einmal übers Ohr hauen zu lassen, den falschen Leuten zu vertrauen, zum Schein auf einen harmlosen Scam einzusteigen. Wer mutig ist, führt den Gedanken weiter – die Touris mögen sich die Handtasche oder das Handy stehlen lassen, blutige Anfänger .... der Profi wird hingegen selbst aktiv und bringt zum Beispiel spielerisch einen Aschenbecher, ein Handtuch mit den Nationalfarben oder ein Autoradio an sich. Wer nicht so weit gehen möchte, dem empfehle ich, einfach nur, bewusst oder unbewusst, einen Fehler zu machen, das ist äußerst lehrreich.

Bald verlasse ich die Stadt, fahre mit Zügen oder Bussen kreuz und quer durchs Land, mit dem Wissen, dass sich die Metropolen angleichen, während in der Provinz Unterschiede weiterblühen. Hier schraube ich den Komplexitätsgrad der Reise herunter. In Wäldern betrachte ich aufmerksam Pflanzen und Tiere, besteige Hügel und kleine Berge, verwende aber unbedingt das Schuhwerk der Einheimischen.
Ich bin mit offenen Augen unterwegs. Wenn mir etwas zu essen oder zu trinken angeboten wird, nehme ich es an. Ich besuche einen Ort ohne Unterkünfte gibt und plane, dass mich jemand aufnimmt. Meist tun sie das, und ich erzähle ihnen, wieso ich hier bin – so gut ich kann. Die schönsten Begegnungen mit Menschen hat man ohnehin, wenn die gemeinsame Sprache fehlt und man auf Grundlegendes zurückgeworfen wird. Ich glaube fest an die verborgene Erkenntnis, dass die meisten Menschen freundlich sind. Ich selbst, als Amanshauser, würde das alles vielleicht nie schaffen. Aber mein perfektes Reise-Ich würde es immer und gerne so tun.

Martin Amanshauser, geboren 1968, lebt in Wien und Berlin, am 27. Juli erscheint im Deuticke Verlag sein neuer Roman „Der Fisch in der Streichholzschachtel“, EUR 22.60.